How to… ein Kunstwerk rekonstruieren

Sarah Lebeck-Jobe ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institute for Music Research der ZHdK, Familientherapeutin und Künstlerin – und sie ist eine unserer wichtigsten Stützen, wenn es um die Archivierung und Lagerung unserer Sammlungsobjekte geht oder der Aufbau einer neuen Ausstellung ansteht.

Für die Ausstellung (de)codiert hat sich Sarah Lebeck-Jobe der Aufgabe angenommen, die Installation von Marie Lieb anhand eines einzigen Fotos zu rekonstruieren. Wir haben mit ihr über den langwierigen und herausfordernden Prozess gesprochen.

Du hast gemeinsam mit Marisa Baumgartner knapp drei Wochen lang gefühlt Tag und Nacht im Museum verbracht, um die Installation von Marie Lieb anhand eines alten Schwarz-Weiss-Fotos nachzubilden. Wie leicht oder schwer war das?

Es war tatsächlich sehr herausfordernd. Die erste Schwierigkeit bei der Nachbildung bestand darin, dass wir nicht genau wissen, wie gross der Raum war, in dem Marie Lieb ihre Arbeiten auf den Boden gelegt hat. Genauso wenig wissen wir, wie breit die Stoffstreifen in Wirklichkeit waren. Es fehlte ein Bezugsrahmen, um die relative Grösse der Elemente zu verstehen.

Wie habt ihr das Problem gelöst?

Ich hatte die Idee, die sogenannte Onion-Skinning-Technik anzuwenden, um eine möglichst genaue Nachbildung der Fotografie zu erreichen. Das heisst, ich habe meine Kamera auf ein Stativ gestellt und sie auf den Boden gerichtet. An meinen Laptop angeschlossen konnte ich so eine Live-Ansicht von dem sehen, was die Kamera in dem Moment aufnahm. Dieses Live-Bild wurde dann mit der Originalaufnahme überlagert. Indem ich beide Bilder gleichzeitig betrachtet habe, konnte ich die Installation so einrichten, dass sie dem Foto entsprach.

Das klingt eigentlich ganz simpel. War es das auch?

Nein, dann ging die Arbeit erst richtig los. Ich musste herausfinden, wie ich die Perspektive mit meiner Kamera abgleichen konnte. Das war alles andere als einfach, weil die Kamera, mit der das Foto vor so langer Zeit aufgenommen worden war, natürlich ein anderes Objektiv hatte – aber ich gab mein Bestes, auch dank der Hilfe meines Mannes, der das Stativ neigte oder die Kamera festhielt, während ich auf den Bildschirm schaute. Die geraden Linien der Dielen auf dem Foto richtete ich dann so aus, dass sie mit unseren Dielen im Museum übereinstimmten. Als ich mit der Perspektive zufrieden war, ging es als nächstes daran, die Raumgrösse zu bestimmen. Als Entscheidungshilfe dienten mir die drei Knöpfe auf dem Originalfoto. Ich legte die Knöpfe auf den Boden und stellte den Zoom des Overlays so ein, dass die Knöpfe auf dem Foto ungefähr die gleiche Grösse hatten wie die Knöpfe auf dem Boden – wobei das natürlich immer noch nur eine Annäherung an die Originalgrösse ist. Schliesslich haben Knöpfe keine einheitliche Grösse und wir konnten auch nicht die originalen Materialien von damals verwenden.

Das hört sich tatsächlich sehr aufwendig an. Hattest du ausser deinem Mann noch weitere Unterstützer*innen?

Marisa Baumgartner war mir beim zweiten Teil des Nachbildungsprozesses eine unglaubliche Hilfe. Dieser bestand darin, herauszufinden, wie man die Grösse der einzelnen Stoffstreifen messen kann. Ich beschloss kleine Papierstücke zu benutzen, um den Anfang und das Ende jedes Streifens auf dem Boden zu markieren. Dabei muss man bedenken, dass es mindestens 225 einzelne Streifen gibt, also etwa 450 Papiermarkierungen! Marisa half mir, die Positionen für viele der Markierungen zu finden. Sie schaute auf den Computerbildschirm, während ich auf dem Boden versuchte, den Rand der einzelnen Streifen zu finden: «Noch mehr links, und noch ein wenig mehr… Stopp!» Wir nummerierten alle Elemente und haben dann eine Liste mit allen Massen der Stoffstreifen erstellt, die für jedes Element nötig waren.

Wie habt ihr die verschiedenen Stoffstreifen so hinbekommen, dass sie aussehen wie auf dem Originalbild?

Der Zuschnitt war die nächste Herausforderung. Wir wollten so viel wie möglich von dem alten Material, das wir von Charlotte McGowan-Griffin ausgeliehen hatten, verwenden. Also habe ich mit den Stücken angefangen, die bereits in brauchbare Längen geschnitten waren. Danach machten wir uns daran, die ganz langen Lappen auszuschneiden. Einige der längsten Leihstreifen mussten wir in dünnere Streifen reissen, damit sie besser zu den Streifen auf dem Foto passten. Am besten hat das funktioniert, wenn Marisa das Ende eines langen Streifens festhielt – und ich am anderen Ende riss. Dadurch war die Linie gerader. Dann legten wir jedes Stück auf das entsprechende Stern- oder Kreuzelement. Wir mussten darauf achten, welche Art von Stoff für jedes Element benötigt wurde – denn wenn ich es auf dem Originalfoto richtig erkenne, hat Lieb drei verschiedene Stoffarten verwendet. Deswegen haben wir ebenfalls drei verschiedene benutzt: einen weissen Stoff, ein beiges Leinen und einen dickeren braunen Stoff.

Stofffetzen, Knöpfe – gibt es noch weitere Materialien auf dem Bild bzw. der Installation?

Oh ja, wer genau hinsieht, erkennt, dass sich in der Mitte der Installation elf Stücke getrockneten Brotes befinden, auch diese sind Teil des Arrangements von Marie Lieb. Auch wenn die Stoffstreifen sicherlich am präsentesten sind, gibt es auch immer wieder andere Alltagsgegenstände, die sie in die Ornamente am Boden hat.

… wie zum Beispiel diese Fäden? Was hat es damit auf sich?

Tatsächlich gibt es auch viele geflochtene Elemente in Marie Liebs Werken. Um diese nachzubilden, haben wir lange Fadenstücke aus dem alten Stoff verwendet oder auch neue Flachsschnüre entwirrt, um die haarige Struktur des dicksten Zopfes zu erzeugen. Das war sicherlich eine der aufwendigsten Arbeiten im Prozess. Deswegen waren wir froh, als wir noch Unterstützung von Skye Daniels erhielten. Mit einer 5-strängigen Flechttechnik hat sie die grösseren Zöpfe geflochten.

War das der letzte Schritt in der Rekonstruktion des Werks?

Es war nicht der letzte, aber ein sehr wichtiger. Dadurch hatten wir endlich alle Elemente beisammen und konnten sie dank der Markierungen an ihrem jeweiligen Platz platzieren. Sobald das abgeschlossen war, habe ich alle Markierungen entfernt und die Streifen mit Hilfe der Onion-Skinning-Technik am Computer so genau wie möglich angepasst.

Entspricht das Ergebnis deinen Erwartungen?

Ich habe tatsächlich sehr lange nach «Perfektion» gerungen, ich wollte, dass die Rekonstruktion genau so aussieht wie die Fotografie. Aber irgendwann musste ich mir eingestehen, dass auch diese Version der Installation niemals exakt mit der Aufnahme übereinstimmen kann, es gibt einfach zu viele unbekannte Variablen und wir konnten nicht den gleichen Stoff verwenden, den Marie Lieb benutzt hatte. Deswegen habe ich es irgendwann doch geschafft, meinen Perfektionismus abzulegen – und bin jetzt sehr zufrieden mit dem Ergebnis.

Der Rekonstruktionsprozess wurde von Pascal Sigrist fotografisch dokumentiert. Herzlichen Dank dafür!